Frühjahr 2015
Menschen kommen und gehen. Viele Menschen.
Viele können sich gut an die Situation im Jahre 2015 erinnern. In ganz Europa kamen viele Menschen an und suchten nach Schutz und Sicherheit. Auch in Bozen strandeten viele und sammelten sich am Bahnhof. Die Lage war außer Kontrolle, die zuständigen Landesämter der Provinz überfordert und niemand hatte einen konkreten Plan, wie mit der Situation umgegangen werden soll. So passierte es, dass viele Menschen in dieser untragbaren Situation für die Ankommenden helfen wollten. Immer mehr Freiwillige am Bahnhof fingen an, aktiv zu helfen – das waren wir, Binario 1.
Während wir anfangs nur Thunfisch und Wasser verteilt haben, organisierten wir uns mit den anderen Freiwilligen nach und nach. Wir haben einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, der uns den Platz gab, den es brauchte, um so viele Menschen zu versorgen und aufzufangen. Denn der eigentliche Warteraum wurde geschlossen, anstatt den Ankommenden einen warmen Ort zum Ruhen zu bieten.
“Am Anfang wurden wir nicht so wahrgenommen, weil wir alle Frauen waren und überhaupt keine Ahnung gehabt haben, aber wir haben sehr schnell gelernt, wie das alles funktioniert.” Und schnell wurden wir auch von der Provinz wahrgenommen. Wir wurden eingeladen zu Koordinierungstreffen und starteten regelmäßige Stammtische für Freiwillige, um zusammen zu kommen, sich auszutauschen und zu organisieren.
Die Jahre danach
Die unterstützen, die hier blieben und Missstände im System
Zwar wollten die meisten der gestrandeten Menschen weiter Richtung Norden, viele sind aber auch in Südtirol geblieben – gewollt oder ungewollt. In den Jahren nach dem großen Ansturm ging es vor allem darum, genau diese Menschen zu unterstützen, denn die institutionellen Organisationen hatten nicht genügend Kapazitäten, sie waren außerhalb der ,,Quote”, nicht von Italien zugeteilt, sondern selbstständig hier her gekommen. Vor allem Sprachkurse sowie Unterstützung beim Schreiben von Lebensläufen und der Arbeitssuche sollten die Menschen unterstützen, nach und nach in Südtirol Fuß zu fassen und ein normales Leben zu beginnen.
Zusätzlich kam es immer wieder zu einschneidenden Erlebnissen, die zukünftige Projekte und Ideen stark beeinflussten und inspirierten.
Zum Beispiel haben wir einmal Spenden zu einem Gelände hinter dem Bahnhof in Bozen gebracht, weil uns gesagt wurde, dass dort Menschen in verlassenen Zügen leben. Wir waren schockiert über die Zustände und tief enttäuscht. Die Politik gab immer den Anschein, alles würde funktionieren und sei unter Kontrolle, aber wir haben gesehen, dass das vorne und hinten nicht stimmt. Ein Grund dafür: das italienische System sieht vor, das Asylbewerber mit positiven Asylbescheiden die Camps recht schnell wieder verlassen müssen. Und viele von diesen landeten/landen dann auf der Straße.
Besonders immer wieder Frauen mit Babies und Kleinkindern auf der Straße zu sehen, weil es scheinbar offiziell keine Plätze in Notunterkünften für sie gab, hat uns unfassbar schockiert und verärgert. Es motivierte uns letztendlich, spontan und eigeninitiativ nach Notunterkünften zu suchen. Die evangelische Kirche in Bozen war eine dieser ersten Notunterkünfte, die immer wieder Menschen in absoluten Notlagen aufnahm und dies auch weiterhin tut.
Durch solche und ähnliche Situationen entwickelte sich nach und nach die Idee, strukturierte und organisierte Schlafplätze für Menschen in Notsituationen anzubieten. Der Gedanke dahinter war im Grunde, einerseits Menschen zu unterstützen, die vom System nicht berücksichtigt und ausgeschlossen werden und andererseits die Missstände in genau diesem System aufzuzeigen – der Politik zu zeigen, wie einfach es sein kann, mehr Schlafplätze im Zentrum von Bozen zu finden und Menschen zur Verfügung zu stellen.
Wir haben Wert darauf gelegt, nicht nur einen Schlafplatz anzubieten, sondern auch Begleitung, Beratung und Unterstützung. So haben wir zum Beispiel häufig mit Psycholog*innen und Ärzt*innen zusammengearbeitet.
Seit 2017
Ambitionierte und strukturierte Unterkunftsprojekte
Durch diese Einsichten über die Missstände in Bozen starteten wir ambitioniertere Projekte, um Menschen in Notlagen durch eine Unterkunft, Beratung und Weiterbildung zu unterstützen.
Wir eröffneten im Winter 2017 ein großes Haus in der Carducci Straße, das von Heiner Oberrauch großzügig zur Verfügung gestellt wurde.Dort konnten wir sowohl kurzfristige Unterkünfte als auch längerfristig Zimmer für Notfälle angebieten. Dieses riesige Projekt wurde von vielen Freiwilligen gehalten und hatte das Ziel, die Personen so weit zu bringen, dass sie selbstständig waren. Für uns war es im Endeffekt ein riesen Sprung ins kalte Wasser, aber es hat funktioniert, es hat vielen Menschen geholfen und wir haben unser Ziel erreicht: zu zeigen, wie einfach und machbar es sein kann, Obdachlosen in Bozen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Das Haus sollte nicht eine dauerhafte Alternative zu anderen Camps sein – es war ein Projekt mit einem geplanten Ende, März 2019. Wir wollten die Verwaltung in Stadt und Land anregen und inspirieren, selbst so ein Projekt zu beginnen. Leider ohne Erfolg.
Weiterhin haben wir beraten und bei den Dokumenten geholfen, waren täglich an der Questur um den Menschen dort zu helfen, sich in der italienischen Verwaltung zurecht zu finden und sich auch durchzusetzen. Wir sprachen bei den sozialen Ämtern in Stadt und Land vor, waren präsent in Netzwerken für soziale, Gesundheits- und Rechtsfragen und vieles mehr. Alles noch von unserem Büro in der Carducci Str. aus.
Seit 2020
Projekt Dorea
Nachdem wir das Haus in der Carducci Straße Ende 2019 wieder abgeben mussten, war der Bedarf an Unterstützung und Unterbringung der Vulernabilen nicht damit gelöst. Frasnelli bot uns den Zeilerhof in Gries an. Gerne zogen wir in den ersten Stock, anfangs mit Frauen und Familien. Dann wohnten dort nur mehr alleinstehende Frauen, das Projekt Dorea war geboren. Jetzt wohnen die Frauen in Haslach in zwei Wohnung, und wir haben in Blumau ein Haus für Familien.
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